Die Entstehung des Dachauliedes
Über die Entstehung und Wirkung des Dachauliedes erzählt Jura Soyfers Mithäftling Max Hoffenberg:
"Die Geschichte von der Entstehung des
Dachau-Liedes, das habe ich unmittelbar erlebt. Wir sind ja oft schon um
zwei oder drei in der Früh um Kaffee gegangen. Es waren riesige
50-Liter-Kessel, die selbst auch schon ein ganz schönes Gewicht gehabt
haben. Das haben wir dann von der Küche in den Block gebracht. Und dann,
man hat geschaut, dass man das schnell macht, und dann ist zwischen den
Appellzeiten und dem Abmarsch vom Block oft eine Viertelstunde oder auch
eine halbe Stunde gelegen. Und das war eine der Zeiten, wo wir
zusammengekommen sind. [...] Und eines Tages sagt der Jura: Komm mit
hinauf zum Garten. Anschließend war ein riesiger Gemüsegarten, der von den
Häftlingen betreut worden ist. [...] Und unter anderem ist auch noch der
Schneckerl dabei gewesen. Und der Kolaritsch. Der hat leider Selbstmord
begangen. Aber erst nachher in Wien. Der Hugo war dabei, der Herbert
Zipper. Und noch einige Leute, die ich nicht mehr ganz in Erinnerung hab.
Und der liest uns das Dachau-Lied vor. Und ich habe nie gewusst, wann er
das geschrieben hat. Das muss er im Schlaf geschrieben haben. Ich habe
zwar neben ihm geschlafen. Aber auf einmal war es da. Und wir waren alle
sehr beeindruckt. Denn es gibt so wirklich wieder, was das Dachau
ausgemacht hat. [...] Und dann hat es so alles getroffen, was wir gefühlt
haben. Ich weiß heute noch nicht, ob jemand, der nicht im KZ war, das auch
nur nachfühlen kann. Nachdem so viele es sagen, nehme ich an, dass es
stimmt. Aber dass er sich das wirklich vorstellen kann, kann ich mir nicht
vorstellen." (Arlt 1988, 400f.)
Zitiert nach: http://www.literaturepochen.at/exil/lecturepage5004_0.html
Herbert Zipper berichtete im Jahre 1988 der österreichischen Musikzeitschrift, wie das Lied tatsächlich entstand:
"Im August 1938 im Konzentrationslager Dachau: Jura Soyfer und ich mußten eine ganze Woche lang einen Lastwagen mit Zementstücken beladen, die außerhalb des Lagers gestapelt waren. Anschließend mußten wir diesen Wagen ins Lager ziehen und wieder entladen. Deshalb sind wir täglich bis zu dreißigmal durch das Eingangstor des Lagers durchgegangen. Eines Tages - es war, glaube ich, der dritte oder vierte Tag - sagte ich zu Jury, der an derselben Stange wie ich gezogen hat: 'Weißt Du, diese Aufschrift über dem Tor - Arbeit macht frei - ist wirklich ein Hohn. Wir müssen unbedingt ein Widerstandslied machen, unseren Mitgefangenen ein bißchen Mut geben.' Und Jura antwortete: ,Ja, ich glaube, ich habe sogar schon daran gearbeitet.'"
"Es war etwa drei Tage später - wir mußten dann in einer Kiesgrube arbeiten, wo wir bis zum Bauch im Wasser gestanden sind -, als Jura zu mir kam und sagte, daß er schon fertig sei und mir den Text vortrug, denn aufschreiben konnte man ihn natürlich nicht. Wenn man einen solchen Text gefunden hätte, dann wäre das eine Todesursache gewesen oder man wäre wirklich sehr, sehr unangenehm behandelt worden. Und so habe ich den Text eben auswendig gelernt."
Jura Soyfer sagte dem Mitgefangenen den Text zwei- oder dreimal vor. dann konnte dieser beginnen, den Text zu vertonen. Zipper war es gewohnt, im Kopf zu komponieren. Das war im KZ von Vorteil, denn er mußte nichts aufschreiben - was er sich auch nicht getraut hätte.
Das Dachau-Lied ist ein Marschlied, in dem sich die
Häftlinge selbst Mut zusprechen. "Es muß so sein, daß die ersten drei
Strophen nur die Umgebung, die Tatsachen, die Gefühle beschreiben, ohne
wirklich die Foltern aufzuzählen -, daß geschlagen oder aufgehängt wird.
Das wollten wir beide nicht.
Nein, es ist nämlich viel stärker, in allen Kunstwerken, wenn es sich um
die menschliche Bestialität handelt, nicht die Gewalttätigkeit selbst zu
zeigen, sondern sie in der Vorstellung des Zuhörers entstehen zu lassen,
weil die Vorstellung immer stärker ist als die Wirklichkeit. Das haben wir
besprochen, obwohl es ein Kampflied sein sollte. Schon in der ersten Zeile
,Stacheldraht mit Tod geladen', da fühlt man bereits die Situation. Oder
,Vor der Mündung der Gewehre leben wir bei Tag und Nacht'. Das sind
Andeutungen, die die Atmosphäre wirklich beschreiben, aber nicht die
Gewalttätigkeit selbst. Wir verlangen nur ,Heb den Stein und zieh den
Wagen', was wir wirklich gemacht haben, aber erwähnen nicht die
Greueltaten."
Herbert Zipper erinnert sich auch noch, wie zwei Gitarristen und ein Geiger das Lied im KZ erlernten, und wie es verbreitet wurde. "Ich weiß noch, daß ich es ein paar Tage mit mir herumgetragen und mir gedacht habe, was ich machen soll, und dann ist mir ein sehr guter Geiger, der der Kapo war, eingefallen, der sich sofort bereit erklärte, das Lied zu erlernen. Jura hat den einen Gitarristen gekannt, und ich habe mit dem anderen gearbeitet. An einem Abend habe ich es mit dem Geiger einstudiert. Wir hatten ungefähr eineinhalb Stunden Zeit, bevor die Sirene ertönte Danach durfte man ja nicht mehr auf sein, sonst wurde man sofort erschossen. Da habe ich ihm das Lied beigebracht, am nächsten Tag wiederholten wir es, und da haben sie es alle drei schon gesungen ...
Ein Schlaglicht auf die Verhältnisse im Dachauer Konzentrationslager werfen auch Herbert Zippers Erinnerungen an die sogenannten Sonntagskonzerte im KZ: "Konzerte ist ein übertriebener Ausdruck. Wir hatten keine wirklichen Instrumente, sondern von den Gefangenen selbst gebaute Gitarren und Streichinstrumente. Wir spielten jeden Sonntag für einige Hundert Gefangene ein 10 bis 15 Minuten langes Programm mit allen Arten von Musik, die ich während der Woche geschrieben hatte. Andere Gefangene haben wahrend der Woche unbedruckte Reste von Zeitungspapier gesammelt, diese Reste zusammengeklebt und liniert, so dass ich Musik schreiben konnte. Natürlich habe ich keine Partituren geschrieben, sondern Stimmen, die wir am Nachmittag eine Stunde probierten. So hatten wir jeden Sonntag nachmittags ein Programm fertig. Das war natürlich nicht immer eigene Musik, viele Gefangene wollten etwa die Habanera aus 'Carmen' hören und andere Musik, die das Allgemeingut der Menschheit war. Ich glaube, daß es diese Sonntagnachmittage waren, die vielen, vielen Gefangenen die nächste Woche ermöglicht haben, so daß sie keinen Selbstmord begingen, denn Selbstmord war zu jener Zeit gang und gäbe."
Quelle: Süddeutsche Zeitung ('Dachauer Neueste'),
04.01.1989, Seite II
Paul Cummins, der Biograph von Herbert Zipper, beschreibt die Verbreitung des Dachauliedes in folgender Weise:
"Somehow the Dachau Lied made its way out of Dachau to other prison camps - to France and Holland, even to England and Mexico. The song survived the war throught the oral tradition and was published in East Germany in an anthology of antifascist songs of concentration camps. In 1953 Zipper received a letter from the East German Ministry of Culture asking if he was the H. Zipper who wrote the 'Arbeit Macht Frei' song. In the meantime the collected works of Jura Soyfer were published with the song included. It is clear, as so many other writers have noted, that works of art once created often have a life of their own. 'Dachau Lied' was one such creation."
Quelle: Paul Cummins, Dachau Song. The Twentieth Century Odyssey of Herbert Zipper, New York, Berlin, Bern, Frankfurt/Main, Paris, Wien 1992, p. 89ff.
Zipper wurde im Februar 1939 aus dem KZ
Buchenwald entlassen. Soyfer starb im Februar 1939 im KZ Buchenwald an
Typhus.
Weitere Informationen zur Rolle der Musik im Konzentrationslager finden Sie hier: http://www.workpage.de/musikkz.php


